Es war einmal...

27.07.2019

Mein erster Lost Place - ein wahres Märchen

... eine schöne Prinzessin und ein edler Ritter. Ein großes Märchenschloss in einem unendlich zu scheinenden Garten mit Steinfiguren und kleinen Springbrunnen. Der Ritter steigt vom edlen Ross herab. Mit eisernem Griff drückt er die Klinke herunter und schreitet durch das knorrige, reich verzierte Eingangstor. 

Klappert mit seiner Ritterrüstung die hölzerne Treppe nach oben. Kniet vor der Prinzessin, die mir aus dem Gesicht geschnitten scheint, nieder und ...

Hoppla! Plötzlich ist alles anders.

"Wenn es nur noch bergab geht"

Angstschweiß steht mir ins Gesicht geschrieben. Ich klammere mich an meiner Kamera fest, als sei sie eine Boje im offenen Meer. Ein letzter Hoffnungsschimmer, ehe ich in den Fluten ertrinke. 

Ich versuche die Luft anzuhalten und weiß im selben Moment, dass dieses Verhalten nur kindisch, aber keineswegs hilfreich ist. Vorsichtig lasse ich meinen Blick sinken und versuche zeitgleich, die bereits über dem Abgrund baumelnde Fußhälfte behutsam zurück zu ziehen. In der Hoffnung, mein Fotorucksack würde in jener Minute wie ein Fallschirm aufspringen, versuche ich meinen Herzschlag auf Normalität zu treiben.

Vor mir klafft ein riesiges Loch. Mein Blick stürzt in den dunklen Abgrund, um sich gleich darauf eilig die Wand nach oben zu tasten. Doch auch oberhalb gibt es keinen Halt mehr. Nur witziger Weise einen alten Warmwasserbeuler, der sich hilfesuchend und kreidebleich an der Wand festzuklammern scheint.

"Lebensversicherungen sind im Preis nicht inkludiert"

Der Schritt rückwärts ist nun meine einzige Lebensversicherung und ich weiß, weshalb wir auf eigene Gefahr an diesem Lost Place herumstreunen. 

Lost Place - Fotografie, das Festhalten von einst ruhmreichen Zeiten, die vor Jahren abprubt geendet haben, steht schon lange auf meiner Wunschliste. Noch rasch im Bild festhalten, was sich die Natur seit Jahren zurückerobert. Wo Schlingpflanzen die glanzvolle Vergangenheit bedecken und Spinnweben sich schützend über die alten Geschichten breiten. Wo Putz und Lack zerbröseln und morsche Decken einstürzen. Mit viel Gespür versuchen wir letztmalig die märchenhaften Zeiten bzw. deren Überreste in unseren Fotos für die Nachwelt festzuhalten. Fotos, die bereits in der nächsten Sekunde von verlorenen Erinnerungen erzählen können. Lost Places ändern sich ständig.

Welcher Fotograf wohl als letzter die nun nicht mehr vorhandenen Böden und Decken festgehalten hat? Jene, die sich mir nur noch als großes Loch von oben und unten zeigen? Die ihre Geschichten mit in die Tiefe gerissen haben und für immer verstummen ließen? Niemand weiß exakt, wann die Natur auch dieses Stück Geschichte für immer begraben hat. Kein Absperrzaun warnt vor der verschlingenden Wahrheit, kein Statiker gibt mir den Boden frei, auf welchem ich stehe. Der Nervenkitzel spiegelt sich in meinen Fotos wider.

"Nur legale Lost Places sind fotogen"

Lost Places gibt es in allen Bereichen und schon lange stellte sich mir die Frage, wie man an diese Orte gelangt, ohne privates Eigentum zu missachten oder sich einer unendlichen Gefahr auszusetzen. Lost Places, abseits von der Zivilisation, fern von hellerleuchteten Räumen, von noch in betrieblich befindlichen Maschinen oder von freundlichen Bewohnern, die einem rasch Einblick gewähren.

Nun, ich bin in dieser Hinsicht Zwiegestalten. Einerseits übt diese Art von Fotografie für mich einen faszinierenden Reiz aus, andererseits möchte ich nicht ohne Genehmigung solche Plätze aufsuchen.

Daher freut mich ganz besonders Marek und seine geführten Lost Place-Fototouren kennen und schätzen lernen zu dürfen. Es ist mir eine besondere Freude legal alte Gebäude und deren Geschichten festhalten zu können. Wir sind eine kleine Handvoll Fotografen, die vielleicht die Plätze zum letzten Mal auf die Speicherkarten bannen können. Wer weiß, was hinter uns die Natur sich zurückholt. Sowie den klaffenden Abgrund vor mir, über den einst tausende Schritte verhallten.

Klar, Marek kann auch nicht für unsere Sicherheit sorgen, aber er kann uns warnen, da er die Örtlichkeiten persönlich kennt und weiß, wie sich diese bereits in den letzten Jahren verändert haben. Nach dem legalen Eintritt durch die schwere Holztür, die gleich hinter uns wieder ins Schloss gefallen ist, geht es geführt durch die Räumlichkeiten, die derzeit noch mehr oder minder frei begehbar sind. Danach sind wir für einige Stunden auf uns alleine gestellt.

"Die Phantasie sollte nicht vor der Türe stehen bleiben"

Gespenstisch breitet sich das Schloss vor unseren Kameras aus. Mit viel Phantasie wird der bröselnden Ruine Leben eingehaucht. Rauschende Bälle finden im alten Ballsaal statt, während sich die Dienstboten durch die Nebenräume zwängen. In den Händen allerlei Köstlichkeiten, die den honorigen Gästen kredenzt werden. Am Balkon stehen die Damen der Runde, plaudern mit einem Champagnerglas in der Hand, während die Ritter auf Schimmeln vorbeireiten. Der Balkon ist schon lange nicht mehr zu betreten. Die damaligen Geschichten, vielleicht auch Liebesgeschichten, stecken in den abbröckelnden Mauerstücken, von denen bereits viele verloren gegangen sind.

Unzählige hochrangige Persönlichkeiten sind über die einladende Holztreppe nach oben geschritten, während die weniger elegante Treppe vielleicht nur dem Personal zustand.

In einem Raum liegen noch alte Matratzen, im Keller befindet sich die einstige Schlossküche. In einer Speisekammer finden wir Bestellformulare von 1968 in einer fremden Sprache. Ein ausgeschlagenes Weinglas neben einem Rest einer Löwentatze könnte von vielen Lippenbekenntnissen erzählen. Ob die Löwentatze einst einen wärmenden Kachelofen stützte? Wir werden es nicht mehr erfahren.

Die Phantasie regen die alten Mauern auf alle Fälle an. Wir durchschreiten Raum für Raum, Zeit für Zeit. Seit meiner bodenlosen Erfahrung wird jeder Schritt mit Bedacht gesetzt, wobei die Augen die Dunkelheit durchforsten und die Ohren auf der Suche nach knisternden Geräuschen sind. So geheimnisvoll das Schloss vor uns liegt, so geheimnisvoll sind unsere Fotos. Hin und wieder huscht ein Schatten vorbei. Ist es einer der Kollegen? Oder gibt es noch Geister der einstigen Besitzer in den alten Mauern, die uns argwöhnisch beobachten? Oder sind wir gar willkommen. Als besondere Zeitzeugen?

"Der Ehrenkodex - ein wichtige Begleiter"

Der Ehrenkodex von uns Lost Place - Fotografen wird hochgehalten: Schauen, fotografieren, genießen, träumen, aber auf keinen Fall den Ort Preis geben, geschweige etwas verändern, verstellen, ruinieren und schon gar nicht mitnehmen. Mitnehmen dürfen wir nur die Erinnerungen anhand unserer Fotos, die vielleicht in den nächsten Sekunden bereits von der Natur für immer verschlungen werden. Ihr braucht das Schloss, welches in einem fernen Land weit weg von Österreich liegt, nicht zu suchen, denn sowie es derzeit aussieht waren wir die letzte Fotogruppe, die sich hier auf eine sonderbare Zeitreise begeben durfte.

"Das letzte Wort hat die Natur"

zumindest solange, bis der Abrissbefehl gegeben wird...

Eure Renate. Erste Lost Place - Erfahrung in einem alten Schloss