Zerbrechliche Scherben der Vergangenheit

28.07.2019

Der Schweiß glänzt im fahlen Laternenlicht auf der Haut der muskulösen Arbeiter. In der riesigen Halle herrscht geschäftiges Treiben. Der Lärm der Maschinen verschluckt so manches Wort. Am Tisch links beim Fenster versucht jemand neue Muster zu entwerfen, während an der Maschine daneben bereits Modelle vorangeganger Ideen entstehen.

Kaum auszuhaltende Hitze strömt aus den Glasöfen, während die handgefertigten Glasgegenstände gebrannt werden. Nach dem Auskühlen verpacken fleißige Damen die filigrane Ware in sichere Transportkisten. Stempel drauf und auf die Reise in die weite Welt.

"Die Zeit steht still"

Doch plötzlich ist es still geworden. Die Arbeiter halten die Luft an. Die Maschinen hauchen die letzte Wärme aus. Der Bleistift fällt auf die letzte Skizze. Die Kartons mit der fertigen Ware bleiben im Gang stehen. Kein Windhauch durchzuckt die weitläufigen Hallen.

Nur ein paar Sekunden später haben die Arbeiter ihre persönlichen Sachen gepackt. Kästen und Tische geräumt. Zurück bleibt nur die Erinnerung.

"Tore wurden für immer geschlossen"

Die Insolvenz der einst florierenden Glashütte traf alle wie aus heiterem Himmel. 2004 verließ der letzte Mensch die Hallen. 101 Jahre Glashüttengeschichte wurden für immer geschlossen. Neue, preiswerte Glashersteller aus dem asiatischen Raum verdrängten die Glasmacher Europas. Nahezu der gesamte Industriezweig, einschließlich der Glasmacherschule, verschwand. Über 4.000 Menschen wurden mit einem Schlag arbeitslos. Die Tore wurden hinter dem letzten Arbeiter geschlossen.

Im Juli 2019, also 15 Jahre nach Schließung, stehe ich mit einer Handvoll Fotografen vor dem großen Eisentor, das mit einer schweren Kette samt großen Schloss gesichert ist. Wir sind mit Marek unterwegs. Auf der Suche nach Lost Places, Orte der Vergangenheit, denen unsere Fotos kurzfristig Leben einhauchen um nicht ganz vergessen zu werden. Wir sind legal unterwegs, großer Ehrenkodex unserer Gruppe. So drückt Marek einem Teilnehmer die Schlüssel samt Verantwortung in die Hand. Verantwortung für unser Handeln nach der Öffnung des Tores. Wir dürfen schauen, staunen, phantasieren, fotografieren.

Wir dürfen auf keinem Fall etwas verändern, mitnehmen, ruinieren, zerschlagen, abbauen und dergleichen. Und wir dürfen nur auf eigene Gefahr in die Hallen und Räume, die die Natur gerade zurückgewinnt.

"Da war die letzte Fotogruppe noch drinnen, dann brauch die Decke mit lautem Getöse zusammen und begrub die letzten Erinnerungen unter sich. Bitte passt auf, das kann jeden Moment wieder passieren!"

Ein mulmiges Gefühl, gepaart mit der Neugierde auf die Vergangenheit. Ein Ort, der mir das Gefühl gibt, als wäre vor meiner Ankunft der letzte Arbeiter gerade gegangen. Und nein, nicht weil hier alles zu Grunde ging, sondern, um morgen wieder neu die Arbeit aufzunehmen.

Ihr seht schon an den Fotos, dieser Ort ist nur wenigen Zeitzeugen vorbehalten. Er gleicht einem Museum. Nur einem Zeitreisemuseum, das niemand betreut. Die morschen Decken knistern, der Efeu verschlingt die Fenster, das Papier vergilbt. Strom gibt es schon lange keinen. Bei Regen tropft es auf die einstige Glanzzeit.

Auf der Suche nach den Erinnerungsmomenten für die Zukunft bewegen wir uns wage und leisen Schrittes durch die Räume. Kaum zu sprechen trauen wir uns. Ständig tastet der Blick den morschen Balken über unserer Häupter ab. Wir sind uns der prickelnden Gefahr bewußt und permanent in Lauerstellung. Sollte sich etwas lösen, auch die anderen warnen zu können.

In der Halle mit den Hochöfen sehen wir, wie hoch brisant und gefährlich unsere Erkundungsreise ist. Erst vor wenigen Tagen fiel mit lautem Getöse und unter Aufwirbeln von Staub das große Lüftungsrohr eisern zu Boden.

"Stille Zeitzeugen - oder nur Momentaufnahmen"

Lost Place-Fotografie - die spezielle Fotografie und dank Marek seiner gut organisierten Reisen ein besonderes Abenteuer. Plätze auf der Speicherkarte festzuhalten, von denen wir genau wissen, dass bereits bei unserem Verlassen sich die Situationen komplett geändert haben können. Vielleicht waren wir die letzten, die einer einst glanzvollen Zeit die letzte Ehre erwiesen? Schon in der nächsten Sekunde könnten herabstürzende Deckenteile wieder ein Stück Geschichte zu Nichte machen. Ein Stück Geschichte, das ab nun auf unseren Fotos weiterleben darf.

Ihr braucht diesen Ort nicht zu suchen, denn ohne Genehmigung kommt man dort nicht hin. Und diese Genehmigungen gibt es nur sehr, sehr selten bis kaum. Zu gefährlich und zu privat heißt es von offizieller Stelle.

Es gibt sicher noch eine Unzahl solcher Orte auf der ganzen Welt. Orte, die sich die Natur zurückholt und somit die Vergangenheit begräbt. Doch eines sei gesagt, ungefährlich sind diese Fotoaktionen nicht, deshalb sollte man sich auf keinem Fall alleine auf die Suche machen.


Eure Renate